Soziales Bewusstsein auf der Leinwand

Von Ursula Baatz · · 2005/12

Als Reaktion auf das inhaltlich seichte, die realen sozialen Verhältnisse ausklammernde Bollywood-Kino entwickelte sich das „New Cinema Movement“, das in Indien selbst, aber auch auf internationaler Ebene weite Verbreitung fand.

Im Jahr 1896 zeigten die Brüder Lumière im Hotel Watson in Bombay ihre ersten Stummfilme – und gaben damit den Anstoß zur Entwicklung des indischen Films. Aber was ist indisches Kino? Auf jeden Fall ein vielsprachiges Kino – denn es gibt Filme in den ca. 15 Hauptsprachen Indiens, die meisten in Hindi, Telugu, Tamil und Malayalam.
In den späten 1950er Jahren differenzierte sich mit den Filmen des großen bengalischen Regisseur Satyajit Ray ein eigenes Genre heraus. Ray wird mit seinen künstlerisch anspruchsvollen, zugleich realistischen und poetischen Filmen international bekannt. Seine „Apu-Trilogie“(1955-1959), aber auch Filme wie „Ferner Donner“(1973) über die Hungersnot in Bengalen oder die Arbeiten über die Veränderungen der indischen Gesellschaft gehören zu den Meilensteinen der Filmgeschichte.
Die Erfolge des kommerziellen Kinos riefen Ende der 1960er Jahre eine Gegenbewegung hervor. Mrinal Sen gründete 1968 das „New Cinema Movement“, um ein unabhängiges indisches Kino hervorzubringen. Seine thematisch realistischen, auf zeitgenössische politische und soziale Konflikte fokussierten Filme zeigen einen deutlichen Einfluss des italienischen Neorealismus – ein Einfluss, der auch in den frühen Filmen von Ray zu erkennen ist. Neben Sen gilt Shyam Benegal als bedeutender Regisseur des „New Cinema“ oder „Parallel Cinema“. Indische Filme sollen die Situation und die Umgebung, in der sie entstehen, zeigen. Nach den Worten des Regisseurs und Theoretikers Kumar Shahani will das New Cinema gegen die Destruktivität, die Desorganisation und Anarchie, die in den „Masala-Filmen“ Bollywoods das Geschehen beherrscht, antreten. Während z.B. viele Bollywood-Filme Gewalt als Duell zwischen zwei Charakteren zeigen, das der Held des Films in jedem Fall gewinnt, erscheint Gewalt in den Filmen des New Cinema differenzierter und als Ergebnis sozialer Spannungen und Ungerechtigkeiten.

Die Produktionen des New Cinema wurden durch kleine staatliche Kredite ermöglicht, die allerdings so knapp waren, dass viele Filme nicht nur wegen des sozialen Engagements ihrer Regisseure, sondern auch wegen der knappen Ressourcen in Dörfern gedreht werden mussten, da dort die Lebenshaltungskosten billiger waren.
Wichtig war die Unterstützung der Presse, die auf die Autoren-Filme des Parallel Cinema aufmerksam machte. Als dann die Filme von Shyam Benegal auch kommerzielle Erfolge wurden, wurden die Filmverleihe auf das „Neue Kino“ aufmerksam. Ein weiterer Grund für die Erfolge des „cinema of social awareness“ (Govind Nihalani), wie es auch genannt wurde, war der Ausnahmezustand unter Indira Gandhi 1975. Denn als etwa Nihalanis „Aakrosh“ (Der Schrei) 1976 kurz nach der Aufhebung des Ausnahmezustands herauskam, verstand das Publikum plötzlich die Bedeutung freier Meinungsäußerung. Ab den 1980er Jahren wurden die Filme des New Cinema auch im Fernsehen gezeigt und erreichten durch Doordarshan, das indische Monopol-Fernsehen, Menschen selbst in abgelegenen Gegenden.
Die AutorInnen des Parallel Cinema produzierten auch Fernsehserien und Dokumentarfilme. Und während in Bollywood-Produktionen Frauen nur selten Regie führen, haben sich im New Cinema eine ganze Reihe von Frauen profiliert. Der Film von Mira Nair, Salaam Bombay, etwa wurde ein internationaler Erfolg und illustriert gut das „cinema of social awareness“.

Und einige weibliche Stars des Bollywood-Kinos sind durch Filme des New Cinema bekannt geworden – allen voran Shabana Azmi und Smita Patil. In den Filmen von Shyam Benegal spielen sie starke Frauen, die ihr Leben meistern.
Doch starke Frauen sind eher die Ausnahme im indischen Kino bis Ende der 1970er Jahre. Satyajit Rays Frauen stecken in ambivalenten, schwierigen Situationen, an denen sich die Veränderung der Gesellschaft seit der Unabhängigkeit ablesen lässt. In „Mahanagar“ (1963) wird das Erwachen einer Frau zur eigenständigen Akteurin gezeigt – doch am Ende ist sie arbeitslos. Und in „Charulata“ (1961) zeichnet Ray nach, wie die Heldin, die sich in den Schwager verliebt, an den Konventionen der Gesellschaft zerbricht. Dass Frauen ihr Schicksal jenseits der tradierten Rollen selbst bestimmen können, wird seit Anfang der 1980er Jahre im New Cinema akzentuiert – und wurde dann auch vom Bollywood-Kino als Thema aufgenommen.

Ursula Baatz studierte Philosophie in Wien und arbeitete später als Religionslehrerin. Sie ist Lektorin an der Universität Wien und Mitarbeiterin des Österreichischen Rundfunks.

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